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13.06.2025

The Faithful Executioner. Oder auch: Leben und sterben lassen im Mittelalter

Ich bin ganz gut dabei meinen Bücherstapel vom Jahresanfang "abzutragen" - was vielleicht auch daran liegt, dass der Stapel nicht so hoch ist, dass sich decision fatigue einstellen könnte - aber dieses Buch ist definitiv das ... sagen wir ungewöhnlichste? Es kam aus demselben Insta-Reel, wie die Scorpion-Bombs, was vielleicht einen Trend begründed. ;-)

Bevor wir jetzt aber zu meinen überschaubaren Eindrücken kommen, worum geht es in The Faithful Executioner: Life and Death in the Sixteenth Century von Joel F. Harrington?


Meet Frantz Schmidt: executioner, torturer and, most unusually for his times, diarist.

Following in his father’s footsteps, Frantz entered the executioner’s trade as an Apprentice. 394 executions and forty-five years later, he retired to focus his attentions on running the large medical practice that he had always viewed as his true vocation.

Through examination of Frantz’s exceptional and often overlooked record, Joel F. Harrington delves deep into a world of human cruelty, tragedy and injustice. At the same time, he poses a fascinating question: could a man who routinely practiced such cruelty also be insightful, compassionate – even progressive?

The Faithful Executioner is the biography of an ordinary man struggling to overcome an unjust family curse; it is also a remarkable panorama of a Europe poised on the cusp of modernity, a world with startling parallels to our own.

Ich wiederhole mich vermutlich wie eine gesprungene Schallplatte, aber Quellenkritik und Quellenskepsis ist mein Lieblingsthema grade wenn es um historische Forschung geht - und je weniger Quellen es gibt, um einen Punkt in der Geschichte zu rekonstruieren, desto freier fabulieren Historiker:innen schonmal. Wir sind eine narrative Spezies und neigen einfach dazu die beste Geschichte zu glauben, auch wenn - oder grade weil - die Realität vielleicht langweiliger oder weniger sinnvoll erscheint.

Und weil das so ist, sind Selbstzeugnisse so ein wenig der Heilige Gral der Geschichtsforschung - nicht weil Menschen sich selbst und ihre Umgebung/Umstände völlig objektiv betrachten (das wäre so wie anzunehmen, dass mein Insta-Feed eine objektive Darstellung meines Lebens ist;-), aber weil man nicht viel näher rankommt an Menschen, die seit Jahrhunderten tot sind.

Und weil das wiederum so ist, fand ich dieses Buch sehr spannend, eben weil es keine 1-zu-1 Abschrift des Tagesbuchs dieses "Henkers wider Willen" (it's complicated) ist, sondern wenn man so will eine Literaturanalyse was uns das Tagebuch erzählt, was es uns *nicht* erzählt und welche Werte und Ziele man evtl. daraus ableiten kann, was dem lange toten Menschen dahinter wichtig war festzuhalten bzw. zu verschweigen.

Natürlich ist das auch eine hochspekulative Angelegenheit, aber grade wenn immer über den Niedergang von Medienkompetenz und so gejammert wird, ist es vielleicht auch eine gute Übung mal durchexerziert zu sehen was man daraus schließen kann, was jemand nicht erzählt, oder wie er sich selbst gegenüber - man nimmt nicht an, dass jemand im Tudor-Zeitalter darauf spekuliert hat, dass Menschen in 500 Jahren sein privates Tagebuch lesen würden ;-) - seinen Alltag beschreibt, was ihm daran wichtig erscheint und wie er die Menschen - in diesem Fall "Verbrecher" - sieht mit denen er zu tun hat.

Ich weiß nicht, ob ich den Henkersalltag in Nürnberg um 1500dazumal jetzt als Recherchematerial bezeichnen würde, wenn man mal wieder eine Mittelalterfantasy plant, dafür ist es dann doch ein wenig Nischenwissen, aber eine interessante Nische trotzdem, in die mal mal reinschauen sollte.
Mir fehlte manchmal noch ein wenig Hintergund zu den - zugegebenermaßen komplizierten - Herrschaftsstrukturen in Deutschland zu der Zeit so über den lokalen Bereich hinaus. Evtl. hätte das auch zu weit geführt, aber ich war manchmal ein wenig verloren was denn so "in der Welt" passiert ist, während irgendwelche Banditen Leute auf den Straßen bedrohen. Ich ziehe daher mal ein halbes Pünktchen ab und verbleibe bei 4,5, definitiv eine interessante Erfahrung. ;-)

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