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31.07.2020

Kindness is Everything? Pazifismus im Jahre 2020

Heute machen wir mal was ganz Anderes als sonst - obwohl eigentlich auch nicht? 
Normalweise erzähle ich euch was zu meinen Gedanken über Filme, Serien, Bücher und so weiter und heute erzähle ich euch was zu meinen Gedanken über die abstrakte Idee des gelebten Pazisfismus...also ist es irgenwie immer noch Kram, der in meinem Hirn so stattfindet, aber ein bisschen ernster als sonst.;-)
Das wird vermutlich lang und ich kann nicht versprechen, dass es furchtbar unterhaltsam wird, aber wir werden es erleben, vielleicht interessiert es ja doch jemanden.

Aber erstmal beantworten wir die Frage: Wie zur Hölle kommt sie denn jetzt darauf?
I’m glad you ask! Wie ich ja schon anmerkte, ist unser Sidebar „Manifest“ jetzt ein permanentes Feature auf unserem Blog und die Zeile „Kindness is Everything“ findet sich dort recht prominent. Ich habe mir das nicht selber ausgedacht, diese Banner gibt es in vielen verschiedenen Formen überall im Internet – und kaum eines lässt diese Zeile aus.
Der Satz wird also oft weitergetweeted, angepinnt, geliked und was man sonst noch so mit Internetkram machen kann und ich habe damit auch kein Problem, denn ich unterschreibe ihn aus meiner persönlichen Überzeugung heraus zu 100%. Nur habe ich mir letztlich oft die Frage gestellt: 

Wie nützlich ist dieser Ausdruck von persönlichem Pazifismus noch im Jahre 2020?



Und Ausdruck von persönlichem Pazifismus ist es für mich in jedem Fall. Kindness bedeutet für mich nicht nur mit meinen eigenen Schwächen und Fehlern nachsichtig umzugehen, sondern auch mit denen von Anderen. Das heißt nicht, dass wir alle riesige Fehler machen dürfen, an denen wir nicht arbeiten, aber es bedeutet jedem Menschen – angefangen bei mir selbst – ersteinmal den „benefit of the doubt“, das Zugeständnis des Zweifels einzuräumen, wenn sie etwas sagen oder tun, das nicht mit meinen Überzeugungen übereinzustimmen scheint. 
Mir und Anderen also zuzugestehen, dass wir „gute“ Menschen sein können, die es wirklich „nicht so gemeint“ haben oder einfach unwissend sind und die sich entschuldigen, weiterentwickeln und wachsen können.
Dieses Zugeständnis des Zweifels ist für mich persönlich eine wichtige Säule meiner pazifistischen Überzeugung, aber ich kann verstehen warum Viele der Meinung sind, dass das bei allem was in unserer Welt schief läuft, nicht mehr wirklich zeitgemäß ist. Ich kann es verstehen, würde es aber nicht in 100% der Fälle unterschreiben.

Wer sich jetzt aber denkt: Hurra endlich die Gegenrede und Verdammung der nervigen #CancelCulture! wird vermutlich enttäuscht, denn das ist nicht, was hier passiert.
Ich bin nicht die Tonpolizei 4.0, es geht mir nicht darum Anderen vorzuschreiben was sie zu tun haben oder wie sie es zu tun haben. 
Ich will einfach mal laut meine eigenen Überzeugungen hinterfragen und meine Privilegien beleuchten und ich bin ziemlich sicher, dass dabei am Ende keine Weisheit herauskommt, die es sich in Stein zu meißeln lohnt.

Bevor wir aber dazu überschwenken, dass die Welt Kacke ist und wie/ob wir dem begegnen können – woher kommt es eigentlich, dass ich mich als Pazifist bezeichne?
Wer es noch nicht wusste, ich habe tatsächlich mal Philosophie studiert und mein Lieblingsthema war unüberraschenderweise Ethik – auch weil ich denke, dass es die praktischsten Anwendungspunkte für das „normale“ Leben bietet. Natürlich kann auch Erkenntnistheorie spannend sein, vor allem wenn man sie mit neurologischen Erkenntnissen überschneidet, aber „Warum definieren wir ein Ding auf dem man sitzt manchmal als Stuhl und manchmal nicht“, hat nicht die brennende Alltagstauglichkeit wie z.B. die Fragestellung wer tatsächlich Schuld trägt wenn ein selbstfahrendes Auto einen Fußgänger überfährt.

Aber meine „Entscheidung“ zum Pazifismus fiel tatsächlich schon in der Schule und zwar in der „Mediations- und Konfliktlösungs AG“ (ja, wir hatten sowas;-). 
Ich habe ja inzwischen den Titel meines Blogs ein bisschen „erwachsener“ angepasst, aber wer sich immer gefragt hat: Ja da kam der Mediator in „Muse, Mediator, Morgenmuffel“ her. Und in diesem Projekt habe ich gelernt: Zuhören, Spiegeln, Nachfragen, Anerkennen – also ein bisschen das Gesprächstherapie 101.
Einem Menschen, der sich in einer Situation verängstigt, bedroht oder einfach auch „nur“ ungerecht behandelt fühlt, hört man also ersteinmal zu, man spiegelt seine Aussagen zurück „Ich verstehe, dass du dich ungerecht behandelt fühlst“, fragt im Zweifel nach, um zu signalisieren „Ich versuche deinen Standpunkt zu verstehen“ und gibt die Anerkennung, dass diese Gefühle offensichtlich real sind und eine Lösung gefunden werden muss/kann. Alles in allem die Gegenthese zu „stell dich nicht so an“, ABER (und das ist genauso wichtig) auch kein „wenn du dich so fühlst, ist das zwangläufig gerechtfertigt“. Anerkennen heißt erst einmal nur das: Ich sehe, dass etwas so ist, ohne dem gleich eine Wertung beizumessen.
Es ist im Übrigen auch selten (bis nie) die Aufgabe des Mediators herauszufinden „wer Recht hat“, sondern nur eine Lösung zu vermitteln, in der sich beide Parteien gesehen, verstanden und wahrgenommen fühlen und zu einem Kompromiss zu kommen, der beide zufriedenstellt.

Mein persönlicher Weg einer "gewaltfreien" Lebensführung schließt sich also aus diesen beiden Strömen zusammen: Sich selbst und anderen gegenüber verzeihend zu sein, ersteinmal vom Besten auszugehen, Gefühle ersteinmal dasein zu lassen und kontruktiv zu kommunizieren, um mich selbst und Andere so glücklich wie möglich leben zu lassen.

Wo lässt uns das aber in den ständigen "Diskussionen" unserer Zeit zurück, in der eine Seite der Anderen gerne ihr Existenzrecht aberkennen möchte? 
Hier gibt es keinen „lebbaren Kompromiss“, der beide Seiten zufriedenstellt.

Ist also Pazifismus (in meiner, vielleicht sehr persönlichen und unperfekten Definition) in solchen Zeiten überhaupt noch angebracht oder gar vertretbar?
Das war die Frage, die mich in den letzten Wochen umgetrieben hat und ich bin zu einem relativ vagen „Es kommt darauf an“ Schluss gekommen, mit dem man sicherlich uneins sein kann, auch und vielleicht gerade weil er viel mit dem Hinterfragen eigener Privilegien zu tun hat. Und wenn wir ehrlich sind, sind wir als Spezies darin nicht besonders gut. ;-)

Die Sache ist nämlich die:
Es ist völlig in Ordnung, wenn Betroffene in diesen Situationen nicht in einen Dialog treten wollen, keine Lust haben über Irrtümer aufzuklären, oder auch einfach mal ihre Wut darüber zum Ausdruck bringen, dass ihnen ihr EXISTENZRECHT aberkannt werden soll. Und dabei ist es ziemlich egal, ob wir zum 100x darüber diskutieren, ob Transfrauen jetzt eigentlich so richtig wirklich Frauen sind (Spoiler: Sind sie!), oder ob PoC öfter in kriminelle Machenschaften verwickelt sind. (Spoiler: Racial Profiling ist eine Self-Fullfilling Prophecy)
In diesen Situationen steht es uns schlicht und ergreifend nicht zu, zu entscheiden wie die Betroffenen mit ihrer Unterdrückung und Ungleichbehandlung umzugehen haben. 

Sich in einer solchen Auseinandersetzung in seine privilegierte Blase zurückzuziehen und die Abwertung, Lächerlich-Machung und den Generalverdacht gegen Betroffene in semantische oder pseudo-philosophische Ethik Debatten umzulenken, kann sich nur leisten, wer von den real-existierenden Konsequenzen nicht betroffen ist.

Aktivismus kann viele Gesichter haben, aber in manchen Situationen ist allein das Existieren in einem Raum oder System schon ein Akt der Revolution, der angreifbar macht. Und das kann unglaublich Kräftezehrend sein und niemand hat die Verpflichtung auf seine eigene Unterdrückung mit Rücksicht auf die Gefühle der Bullies zu reagieren. Oder überhaupt zu reagieren – Kindness zu sich selbst, kann auch Selbstschutz bedeuten und Selbstschutz kann auch Distanzierung bedeuten.

Als (in den meisten Fällen) Nicht-Direkt-Betroffener stehen mir alle diese Wege natürlich auch offen - ich kann meiner Wut Luft machen, versuchen zu argumentieren oder mich komplett zurückziehen. "Unpolitisch" zu sein, ist ein Privileg derjenigen, dere schiere Existenz von anderen nicht als "Provokation" verstanden wird. Aber ist das wirklich ein guter Weg, um mit meinen Privilegien umzugehen? Und wenn nicht, was sind die Alternativen?

Jemandem einfach mal aus dem Weg zu gehen (auch im digitalen Sinne) scheint erst einmal die „pazifistische Variante“, während einfach mal seinem Frust freien Lauf lassen und Arschlöchern sagen, dass sie sich wie Arschlöcher benehmen (auch im digitalen Sinne) irgendwie das Gegenteil zu sein scheint, aber ich bin mir nicht sicher.
Beide Herangehensweisen – so verständlich und daseinsberechtig sie sind – tun eines nämlich nicht: Sie ändern keine Meinungen bei der „Gegenseite“.

Das mag jetzt für das Ignorama logischer erscheinen, als für die Konfrontation, aber die meisten Gespräche (auch im digitalen Sinne), die anfangen mit: „Hey Arschloch, du verhältst dich kacke, merkste schon, oder?“ haben vermutlich nicht den Effekt ein Umdenken beim Gegenüber zu erzeugen. So sind Menschen psychologisch einfach nicht gepolt. Das ist aber auch oft gar nicht der Sinn.
Das Ausdrücken von Wut und Frust, dass wir im Jahre 2020 immer noch nicht weiter sind, so „als Gesellschaft“ ist auch eine Form von Aktivismus, bei dem es aber weniger darum geht die Gegenseite umzustimmen, als mehr von den Betroffenen gesehen zu werden „Ihr seid nicht allein, ich bin auch wütend!“

Und die Sache mit dem Ignorama ist die: Man kann es den Betroffenen nicht vorschreiben, ob/wie sie überhaupt auf Angriffe auf ihre Existenzberechtigung reagieren wollen, aber es ist trotzdem wichtig, dass irgendwer reagiert und dass menschenverachtende oder beleidigende oder einfach "nur" #problematic Positionen nicht unangefochten bleiben.
Silence is Violence ist ein lahmer Kalenderspruch, aber auch wahr!
Und Gewalt – auch durch „unterlassene Hilfeleistung“ wenn man so will – kann keine pazifistische Position sein, zumindest nach meiner Definition.

Allerspätestens bei allen "Debatten", in denen also meine eigene Existenzberechtigung als dicke Frau nicht zur Disposition steht, kann ich mich also fragen: 
Habe ich nicht die Aufgabe die nötige „Aufklärungsarbeit“ zu leisten und dieses Engagement nicht immer auf die Betroffenen abzuwälzen? Und ist es nicht meine Aufgabe, mein Privileg des Nicht-Direkt-Betroffen-Seins dazu zu nutzen, nicht wütend zu werden, zu verstehen wo der Andere steht und zu versuchen irgendwie durchzudringen?
Ich sehe bei mir selbst, dass diese Auffassung von persönlich gelebtem Pazifismus viele Einschränkungen hat – ich persönlich glaube zum Beispiel nicht, dass ich so ein Gespräch in 280-Zeichen-Tweets führen kann, oder dass es bei „professionellen“ Rassisten/Transphobikern etc. funktionieren würde, die Profit (z.B. politischer Art, aber auch z. B. durch "Outrage Fame") aus ihrer Ablehnung und ihrem performativen Hass schlagen. 
Aber es ist nach meinen Überlegungen die einzige Art, in der die Maxime von persönlichem Pazifismus und Mediation in "Debatten" über das reine Existenzrecht anderer Menschen überhaupt Sinn machen. Und daher etwas, das ich versuchen werde umzusetzen, um zu wachsen und die Welt wo immer möglich im Kleinen ein bisschen besser zu machen. Man muss sich selbst nicht furchtbar wichtig nehmen, um zu sehen, dass man wenigsten Kieselsteine bewegen kann.;-) 
Be the change you want to see in the world, und so.

Ich habe nicht versprochen, dass irgendwelche ewigen Weisheiten bei diesem Post herumkommen und daher lasse ich das alles mal mit all den Fragezeichen so stehen.
Man macht sich angreifbar in dieser Welt, wenn man überhaupt irgendetwas sagt, aber nichts zu sagen, wäre auch kein gelebter Pazifismus, wie ich ihn verstehe.
In diesem Sinne: Passt auf euch auf!

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